Mit Lenin nach Kastilien

Zeigt her Eure Hondas - unterwegs oder in der Werkstatt
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nabu kudurri usur
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Mit Lenin nach Kastilien

Beitrag von nabu kudurri usur »

Liebe Leute,

nachfolgend ein Reisebericht, aus dem hervorgeht, dass man auch mit weniger als einem Liter Hubraum gescheite Reisen unternehmen kann. In diesem Falle leider nicht mit der Nixe, sondern mit Lenin. Ich hoffe damit eine Anregung für viele, viele Nixen-Berichte geben zu können. Den Beitrag habe ich heute (18.11.2019) wieder bebildert, nachdem die alten Illustrationen seit einiger Zeit fehlten!

Teil 1:

Deutschland im Mai: Seit Tagen ist es saukalt und regnet Bindfäden. Na klar, wir wollen eine Motorradreise antreten. Wir, das sind mein Freund Hans und ich – und natürlich Lenin. Lenin ist eine 25 Jahre alte MZ ETZ 250 mit einem 300er Motor. Lenin heißt Lenin, weil eine angeklebte Sowjetmünze seinen linken Lenkergriff verschließt.
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1. Tag: Es hat tatsächlich aufgehört zu regnen. Schwer beladen mit Krauser-Koffern, selbst gebautem Topcase, Tankrucksack, Zelt und Schlafsack düse die 350 km von Coburg zu Hans ins schwäbische Balingen. An die 50 kg Gepäck muss ich mich erst noch gewöhnen. Nahe Weikersheim saut ein kurzer Regenschauer die bislang sauber glänzende MZ gründlich ein. Ich verbringe Abend und Nacht als Gast in Hans und Margits Haus und werde köstlich bewirtet.
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2. Tag: Das Thermometer zeigt morgens nur 10 Grad an. Das kann ja heiter werden im Schwarzwald. Dick vermummelt starten wir unsere 300er. Über Freiburg fallen wir in die Oberrheinische Tiefebene ein und passieren um die Mittagszeit Mulhouse. Dann geht es entlang der klassischen Strecke Besancon, Bourg und Lyon ins Rhonetal. Beim Tanken entdecken wir, dass Hans ETZ ein veröltes Vorderrad aufweist. Der linke Gabelsimmering hat sich selbständig gemacht. Hans drückt ihn vorsichtig in seine Aufnahme zurück. Gegen 20.00 Uhr tuckern wir auf den Bikercampingplatz von Crest - einem Örtchen im Rhonetal zwischen Valence und Montelimar. Wir verzichten auf den Zeltaufbau und nehmen stattdessen eine Hütte zum Übernachten. Ein köstliches Mahl und diverse Gläser Wein runden den Abend ab.
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3. Tag: Nach dem Frühstück will ich fotografieren. Leider hat der 28 Jahre alte Apparat die Batterie über Nacht leer gesogen. Ab jetzt heißt es Blende und Belichtungszeit frei Hand einstellen. Da Hans mich nur wenige Tage begleiten kann, nehmen wir die Autobahn nach Süden. Bei extrem böigem Wind geht es durch das Rhonetal und am Mittelmeer entlang bis nach Beziers. Dort verlassen wir die Autoroute und fahren zu unserem Zeltplatz nahe Carcassonne auf der Landstraße weiter. Unterwegs frisst der Gasschieber von Hans betagter MZ. Das kann schon mal passieren: Sie hat immerhin 80.000 km auf dem Buckel. Hans löst das Problem gekonnt mit Schmirgelpapier. Am Nachmittag bauen wir unsere Zelte auf und legen davor einen Bundeswehrponcho als Teppich aus. Wir gehen Einkaufen, kochen ab und klönen anschließend bis weit nach Mitternacht. Der Rotwein beflügelt unsere Zungen. Ach, was ist das Leben herrlich!
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http://www.campings-aude.com/camping-la ... ie/f1.html

4. Tag: Die Sonne begrüßt uns am Morgen. Leider auch der böige Wind. Bei mäßigen 15 Grad tuckern wir ins nahe gelegene Carcassonne. Die mittelalterliche Stadt ist Weltkulturerbe und besitzt Ausmaße, in die Rothenburg ob der Tauber gleich mehrfach hineinpassen würde. Wir umrunden die fast 2 km lange doppelte Stadtmauer zu Fuß und besichtigen die Innenstadt samt Burg. Den Tag beenden wir zünftig mit gemeinsamem Kochen und viel Rotwein.
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5. Tag: Die Sonne lacht, es hat 28 Grad und kaum noch Wind. Heute nehmen wir eine der schönsten Strecken Südwestfrankreichs unter die Räder. Sie führt uns aus dem Aude-Tal heraus in die Montagne d’Alaric und weiter in die Corbieres. Kleine, kaum befahrene Nebenstrecken winden sich durch unberührte Natur und malerische Schluchten. Sie sind die Domäne unserer durchzugskräftigen Zweitakter.
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Einer der Höhepunkte des Tages stellt die Durchquerung der Gorges de Galamus dar, einer tiefen Felsschlucht nahe des kleinen Ortes St. Paul de Fenouillet (etwa 25 km westlich von Perpignan). Beeindruckend ist auch die nahe gelegene Festung Queribus, in der sich im 13. Jahrhundert die Katharer vor ihren katholischen Verfolgern verschanzten. Wir besichtigen sie ausgiebig. Am Abend stehen rund 300 km mehr auf den Tachos. Da wir keine Lust zum Kochen haben, gibt es Pizza. Zum Schlafen kommen wir in dieser Nacht nicht. Wüster Techno-Beat, der von einer Open-Air-Veranstaltung kommt, erfüllt die Ebene bis in den Morgen. Ich hege Mordgedanken.
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6. Tag: Beim Aufstehen fühle ich mich wie gerädert. Das herrliche Wetter bringt mich auf positive Gedanken. Heute ist unser letzter gemeinsamer Tag. Wir fahren nach Fontfroide, einem einsam gelegenen Zisterzienserkloster südlich von Narbonne. Nach der Besichtigung spricht uns ein französischer Familienvater auf dem Parkplatz an. Er zückt spontan ein elektronisches Gerät und zeigt uns stolz sein MZ-Gespann, mit dem er im letzten Winter ein Treffen des französischen MZ-Clubs in den Cevennen besucht hat. MZ-Fahren verbindet.
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7. Tag: Hans und ich trennen uns heute. Während er zurück nach Deutschland fährt, treibt es mich weiter nach Zentralspanien. Der Abschied fällt schwer. Es waren sehr schöne gemeinsame Tage, und wir haben uns prächtig verstanden. Doch das Abenteuer ruft! Von Carcassonne aus falle ich auf Nebenstrecken über Quillan, Axat und Puigcerda in die Pyrenäen ein. Dass massives Gewölk auf ihnen lastet, lässt nichts Gutes erahnen. Tatsächlich zwingen mich Gewitter und deftige Regenschauer erstmals in die Regenkombi. Meist gilt dann: Hat man die Regenpelle erst einmal angezogen, dann hört der Niederschlag sofort auf. So ist es auch diesmal.

Parallel zum Pyrenäenhauptkamm düse ich auf gewundenen Gebirgsstraßen über Seu, Coll de Nargo und Tremp nach Benabarre, wo ich mein Zelt aufschlagen möchte. Da der Platz fast vollständig von Landfahrern belegt ist, ziehe ich es vor, über Barbastro und Huesca weiter nach Westen zu reisen und gegen einen eisernen Glaubengrundsatz zu verstoßen: Angesichts der fortgeschrittenen Zeit mampfe ich einen BigMäc bei McDonalds und steuere im Dämmerlicht den mir bereits vertrauten Zeltplatz von Ayerbe an. Als ich den Motor abstelle, vernehme ich aus dem Dunkel den sachkundigen Kommentar eines älteren Herrn: „Die klingt ja wie ne MZ!“ Logisch, ist ja auch eine.
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https://www.campercontact.com/de/spanie ... -la-banera

8. Tag: Ich komme um acht aus den Federn und freue mich über einen sonnigen Morgen. Bei angenehmen Temperaturen fahre ich zum Castillo de Loarre, das als bedeutendster romanischer Profanbau Nordspaniens gilt. Anschließend heißt es, die Ebro-Ebene in westlicher Richtung zu durchqueren. Ich wähle eine Route, die mich durch Ejea, Tauste und Tarazona nach Soria führt. Nahe Ejea freue ich mich kindisch darüber, mit der voll beladenen Fuhre eine Zusammenrottung amerikanischen Alteisens zu versägen. Wenn ich keine Harley-Treiber demütige, dann lasse ich es auf kleinen und kurvigen Nebenstrecken deutlich gemächlicher angehen. Ich genieße ein grünes und blühendes Spanien am Wegesrand. Wie anders sieht es hier im Hochsommer aus!
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Hinter Tarazona gilt es, auf gut ausgebauten Nationalstraßen extrem lange Steigungen zu bewältigen. Da ich gleichzeitig mit Gegenwind zu kämpfen habe, kommt die von mir um fünf Prozent länger übersetzte und mit 50 kg Gepäck satt beladene MZ an ihre Grenzen. Nicht selten muss ich mich mit dem vierten Gang begnügen, der bei 5.000 Umdrehungen 97 kmh liefert. Zwar hält die Fuhre auch im Fünften diese Geschwindigkeit, Beschleunigen geht aber nicht! Der Sprung zwischen dem vierten und dem fünften Gang ist unter den ungünstigen Bedingungen einfach zu groß. Geld koste das auch: 7,5 l säuft Lenin an jenem Tag auf 100 Kilometern. Wie gut, dass ich ihm einen 23 Liter-Tank spendiert habe. Vor Soria zwingen mich prasselnde Regenschauer in die ungeliebte Regenkombi. Im Ort selbst scheitert die Besichtigung eines Klostern, in dem vor 40 Jahren der Film „Die Nacht der reitenden Leichen“ gedreht wurde. Es ist Montag, und damit Ruhetag für die meisten Museen und Kulturdenkmäler in Spanien.
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Frustriert fahre ich weiter über El Burgo de Osma und Aranda de Duero nach Penafiel, einer kleinen Stadt, die ca. 50 km östlich von Valladolid und 100 km nördlich von Madrid liegt. Hier will ich für die nächsten Tage Anker werfen und mehrere spanische Castillos und Städte aufsuchen. Am frühen Nachmittag trudele ich auf dem örtlichen Zeltplatz ein und werde, noch bevor ich das Zelt aufbauen kann, spontan von einem älteren Ehepaar aus Stuttgart zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Nach dem Abkochen genehmige ich mir den obligatorischen Absacker und stelle meinen kleinen Sony-Weltempfänger an. Da die Glassicherung der Bordsteckdose ihren Geist aufgegeben hat, muss ich auf Batterien zurückgreifen. Auch mein Lieblingssender Radio Classica bereitet mir eine herbe Enttäuschung. Ernesto Halffter zählt nicht gerade zu meinen Lieblingskomponisten.


9. Tag: Nach anhaltendem nächtlichen Regen scheint der Tag trocken bleiben zu wollen. Ich habe bis jetzt 2.800 km zurückgelegt und beginne nach dem Frühstück das Motorrad zu warten. Während ich die Kette schmiere und spanne, dringen seltsam modulierte Töne an mein Ohr. Sie klingen merkwürdig elektrisch - wie beispielsweise das Raumschiff Enterprise im Zeitsturm. Höre ich Stimmen, ist es ein Hörsturz? Woher kommen sie? Eindeutig vom Motorrad. Aber woher? Ich klemme die Batterie ab. Das Singen geht weiter. Es dauert eine Weile, bis ich herausfinde, dass es die Tankdeckelentlüftung ist.
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Teil 2 folgt!
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Zuletzt geändert von nabu kudurri usur am Mo Nov 18, 2019 7:34 pm, insgesamt 27-mal geändert.
ἀλλ' εἰ χεῖρας ἔχον βόες <ἵπποι τ'> ἠὲ λέοντες
ἢ γράψαι χείρεσσι καὶ ἔργα τελεῖν ἅπερ ἄνδρες,
ἵπποι μέν θ' ἵπποισι, βόες δέ τε βουσὶν ὁμοίας
καί <κε> θεῶν ἰδέας ἔγραφον καὶ σώματ' ἐποίουν
τοιαῦθ', οἷόν περ καὐτοὶ δέμας εἶχον <ἕκαστοι>.
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walli777
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Re: Mit Lenin nach Kastilien

Beitrag von walli777 »

Wolf-Ingo,
danke für diesen schönen Reisebericht :)
Das weckt Fernweh ...
Gruß, Karin
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nabu kudurri usur
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Re: Mit Lenin nach Kastilien

Beitrag von nabu kudurri usur »

2. Teil:

Mittags besichtige ich die örtliche Festung und bin beeindruckt von diesem Bau, der die ganze Ebene beherrscht. Anschließend geht es auf Erkundungstour. Die Gegend ist Bauernland: Schweinezucht, Getreideanbau, etwas Wein. Die Ebene ist so flach, dass man die Erdkrümmung bemerkt. Entsprechend gerade und kurvenlos sind die Straßen. Es herrscht ein stetiger Wind, der Lenin mal beschleunigt, meist aber unangenehm abbremst und viel Sprit kostet. Ich fahre nach Cuellar, einem mittelalterlichen Städtchen, dessen Kirchen im Mudejarstil mir leider wegen ungünstiger Öffnungszeiten verschlossen bleiben. Ebenso ergeht es mir beim Castillo von Iscar.
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10. Tag: Der Tag ist trocken, aber sehr kühl. 13 Grad Höchsttemperatur zwingen mich in Pullover und Strickjacke. Wenn ich nicht zu faul wäre, würde ich sogar das Jackenfutter wieder einknüpfen. Auf schnurgeraden Straßen tuckere ich morgens nach Coca, einer der malerischsten Festungen in ganz Nordspanien. Dagegen wirken manche unserer viel gepriesenen Ritterburgen geradezu ärmlich. Es macht eben einen Unterschied, ob sich ein kleiner Feudalherr irgendwo eine Burg baut, oder ob ein Zentralstaat, wie Kastilien es seinerzeit war, systematisch die Befestigung strategisch wichtiger Plätze vornimmt.
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Da der Tag noch jung ist, beschließe ich Segovia aufzusuchen, die alte kastilische Königsstadt. Sie thront malerisch auf einem lang gestreckten Bergrücken. Die gewaltige spätgotische Kathedrale, der riesige römische Aquädukt, neben dem die mittelalterlichen Fachwerkhäuser wie Zwerge wirken, und der Alcazar (Königspalast) ziehen mich in ihren Bann. Letzteren besichtige ich ausgiebig, bevor ich müde, aber zufrieden nach Penafiel zurückkehre. Ein deftiges Schweinekotelett ziert am Abend meine Pfanne und lässt einen wunderschönen Tag ausklingen.
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11. Tag: Morgens faulenze ich hemmungslos. Obwohl drohende Gewitterwolken am Himmel stehen, werfe ich gegen 12 Uhr Lenin an, um die Wehrkirche von Turegano zu inspizieren. Sie hat gewaltige Befestigungen und bietet im Inneren ein verschachteltes Labyrinth von Räumen und Schießscharten. Auf dem Kirchendach angekommen, stehe ich unvermittelt einem halben Dutzend kinderreicher Familien gegenüber. Es sind Störche, die auf den nur wenige Meter von mir entfernten Türmchen der Zitadelle ihr Nest eingerichtet haben. Entschuldigungen murmelnd ziehe ich mich diskret zurück. Beim Versuch, die Kirche von außen zu fotografieren, zerfällt meine Rollei 35 SE in mehrere Teile. Ich kann zwar auch künftig noch Fotos schießen, aber die Entfernung nicht mehr einstellen. Über eine penibel eingestellte Tiefenschärfe hoffe ich das Problem in den Griff zu bekommen. Nahaufnahmen sind leider kaum noch möglich.
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Die ca. 30 km große Distanz nach Segovia ist in einer halben Stunde überwunden. Als ich am späten Nachmittag auf einer vierspurigen Einfallstraße in die Stadt reite, sehe ich kein einziges Auto auf dieser Route, obwohl eigentlich der Berufsverkehr toben müsste. Da weder Sonntag ist, noch ein allgemeines Fahrverbot herrscht, gibt es nur eine Erklärung: Die Fördermittel der Europäischen Union zur Verbesserung der Infrastruktur müssen reichlich und ohne jede Bedarfsprüfung geflossen sein. Wenn ich da an unsere Schlaglochpisten denke…
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Segovia besitzt eine wunderschöne Altstadt und eine spätgotische Kathedrale von überwältigenden Ausmaßen. Ich bin so vertieft in meinem Entdeckerdrang, dass ich die hoch aufgetürmten Gewitterwolken viel zu spät realisiere.
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Als ich die Stadt verlasse, kann ich massive Regengüsse am Horizont sichten. Und mein Weg führt – wie sollte es anders sein - direkt in die dunkelste Wetterküche. 40 km vor meinem Zielort wird es richtig ungemütlich: Blitze zucken, Donner kracht und es regnet unablässig. Ich halte an und warte das Schlimmste ab. Als ich dann am späten Abend endlich auf dem Zeltplatz von Penafiel ankomme, darf ich feststellen, dass der Ort trocken geblieben ist.
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12. Tag: Nachts hat Regen eingesetzt, der auch fast den ganzen Tag über anhält. In den Regenpausen frühstücke ich vor dem Zelt, gehe Einkaufen oder erledige anstehende Wartungsarbeiten. Ansonsten stehen Duschen und SPIEGEL-Lesen auf dem Programm. Die MZ hat Pause. Abends bemerke ich bekümmert, dass meine angejahrte Isomatte undicht geworden ist. Ich darf jetzt jeden Tag ein Blaskonzert geben. Außerdem ist meine MZ-Schirmmütze weg. Es scheint ein Urlaub der Verluste und Ausfälle zu werden. Nur Lenin bleibt standhaft.
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13. Tag: Morgens scheint die Sonne, aber mit 8 Grad Außentemperatur ist es reichlich kühl. Um die Mittagszeit besteige ich die ETZ und versuche mein Glück nochmals in Cuellar, wo ich die Kirchenführung nur um Sekunden verpasse. Die Eingangstür schlägt mir praktisch vor der Nase zu. Wenigstens das Castillo von Iscar ist heute zu besichtigen. Während ich auf steilen Treppen und hohen Mauern herumkraxele, tun mir die Angreifer von damals leid. Schwindelnde Höhen und allgegenwärtige Schießscharten hätten die Erstürmung der Burg zum Selbstmordkommando werden lassen. Der Besichtigung folgt ein ca. 200 km langer Rundkurs zum Nationalpark Hoces del Rio und nach Sepulveda. Ich genieße es sehr, endlich wieder Kurven fahren zu können. Lenin ist in seinem Element. Die Straßen sind leider so holprig, dass ich das Vorhängeschloss meines Topcases verliere.
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Auf den Zeltplatz zurückgekehrt muss ich bekümmert feststellen, dass Samstag ist. So leer die spanischen Plätze an Wochentagen auch sein mögen, am Wochenende boxt dort der Papst. Großfamilien beziehen ihre Zelte und Wohnwagen, riesige Fernseher werden ins Freie gezerrt und Empfangsantennen unter Lebensgefahr in die Kronen der höchsten Bäume verschleppt. Ich höre den Eurovision Song Contest brüllend laut, und, als wäre das noch nicht genug, kapert eine Armada von 10 bis 12jährigen Wandervöglern den Platz. Sie machen einen Höllenradau. Selbst um ein Uhr nachts toben die entfesselten Infanten noch ungehindert in der Gegend herum. Ich beginne Herodes in einem milderen Licht zu sehen. Linderung verschaffen Ohrhörer und Radio Classica, obwohl Schönberg sonst gar nicht mein Fall ist.
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14. Tag: Die Vögel werden zutraulicher. Ob das an den vielen Federn auf meiner Kleidung liegt? Der Daunenschlafsack lässt schön grüßen. Heute heißt es Abschied nehmen. Da die Gemahlin schlechtes Wetter für Frankreich verkündet, denke ich darüber nach, meinen Standort ins südliche Spanien zu verlegen. Ein Blick auf den bereits 3.600 km gelaufenen Hinterradreifen lässt mich davon Abstand nehmen. Das Profil des 4.10ers reicht dazu wohl nicht mehr aus. Ich entscheide mich, der Wetterprognose zum Trotz, nach Frankreich zu fahren. Bei herrlichem Wetter geht es um 11 Uhr los. Ich genieße die leeren und gut ausgebauten Straßen im spanischen Binnenland. Die Route führt mich von Penafiel über Aranda, Burgo, Berlanga, Almazan und Monteaguado in die Ebro-Ebene.
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Da Lenin stetigen Rückenwind verspürt, legt er los wie ein Weltmeister. Vollbepackt und hochbeladen düst er selbst lange Steigungen mit 125 kmh hoch und beschleunigt sogar, wenn ich mich klein mache und den Gasgriff voll aufdrehe. Wie gut, dass spanische Radarfallen Seltenheitswert genießen. Teuer wird es trotzdem, denn Lenin verlangt wieder einmal mehr als 7 Liter Superbenzin – plus Zweitaktöl, versteht sich. In der Ebro-Ebene ist es heiß und stickig, der Wind kommt jetzt häufig von der Seite. Die Gegend bietet nichts Reizvolles. Um sie rasch zu verlassen, benutze ich bis Zaragoza ein etwa 75 km langes Autobahnstück, um dann auf der Nationalstraße bis Lleida weiterzufahren. Von dort aus führt mich der Weg über Balaguer, Artesa, Seu und Puigcerda wieder in die Pyrenäen. Als ich das Zelt schließlich in Casteil aufschlage, einem Gebirgsort etwa 50 km westlich von Perpignan, liegt eine Tagesetappe von 750 km hinter mir - davon 90 Prozent auf Landstraßen. Lenin hat sie in 9 Stunden bewältigt, eine Mittagspause und drei Tankstopps mit eingerechnet. Nicht schlecht für eine MZ.
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Teil 3 folgt!
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ἀλλ' εἰ χεῖρας ἔχον βόες <ἵπποι τ'> ἠὲ λέοντες
ἢ γράψαι χείρεσσι καὶ ἔργα τελεῖν ἅπερ ἄνδρες,
ἵπποι μέν θ' ἵπποισι, βόες δέ τε βουσὶν ὁμοίας
καί <κε> θεῶν ἰδέας ἔγραφον καὶ σώματ' ἐποίουν
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nabu kudurri usur
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Re: Mit Lenin nach Kastilien

Beitrag von nabu kudurri usur »

Teil 3

15. Tag: Der Platz von Casteil ist herrlich. Mitten im Bergwald gelegen, vermittelt er einem den Eindruck, völlig allein zu campen – zumindest dann, wenn man in der Nebensaison kommt und den obersten Stellplatz kapert. Mir ist das wieder einmal gelungen. Ich beschließe ausgiebig zu frühstücken, zu faulenzen und den Platz zu genießen. Der Himmel ist bewölkt, aber es bleibt trocken. Am Abend verkündet das Kurzwellenradio, Bundespräsident Köhler sei zurückgetreten. Ich verspüre Bedauern.
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http://www.domainestmartin.com/

16. Tag: Heute geht es in den örtlichen Tierpark. Bereits gestern habe ich Fressalien für die Viecher eingekauft: Äpfel, Möhren, Knollensellerie, Bananen und Mais. Um meinen prall gefüllten Einkaufsbeutel an der Kasse vorbei zu schmuggeln, muss ich die schwere Motorradjacke als Tarnung darüber hängen. Da der gebirgige Rundkurs etwa 5 km lang ist, habe ich einiges zu schleppen. Gott sei dank bleibt das Wetter trocken und kühl.

Nur langsam wird der Futterbeutel leer: Mais mögen alle, Äpfel vor allem die Geisen, Bananen der Affe, Knollensellerie und Möhren bleiben Ladenhüter. Eine Mutprobe stellt die Aufgabe dar, dem mannshohen Emu das Mais auf der flachen Hand zu überreichen. Ich überwinde mich und kann erfreut feststellen, dass das Vieh nicht aggressiv ist. Ach ja, dem Löwen habe ich ein Putenschnitzel serviert – allerdings nicht auf der flachen Hand.
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17. Tag: Der Morgen begrüßt mich mit ausgesprochen schönem Wetter. Heute stehen zwei Höhepunkte auf der Tagesordnung: die Besichtigung der Festung Salses und das abendliche Essen im wiedereröffneten Platzrestaurant von Casteil. Salses wurde zwischen 1497 und 1504 von den Spaniern zur Verteidigung des Roussillons gebaut. Das Bollwerk gilt als beispielgebender Militärbau, an dem sich die Entwicklung von der mittelalterlichen Burg hin zur modernen Festung ablesen lässt. Die Führung enttäuscht mich. Vor 23 Jahren war ich mit Sigrid schon einmal hier. Damals konnte man den Bergfried und sein einzigartiges Verteidigungssystem viel eingehender unter die Lupe nehmen.
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Dem Vergnügen folgt die Pflicht. In Perpignan arbeite ich einen detaillierten Einkaufszettel meiner Gemahlin ab. Da der Supermarkt seit unserem letzten Besuch umgeräumt und Produkte ausgelistet hat, dauert die Angelegenheit länger als geplant. Entschädigt werde ich im Platzrestaurant. Dessen Köchin reist jedes Jahr im Juni aus den Niederlanden an und verwöhnt die Gäste bis Anfang September mit ausgesprochenen Köstlichkeiten. Da die Frau ihr Metier von der Pike auf gelernt hat, hebt sich das Servierte wohltuend von den üblichen Touristenmenüs a la „Steak & Frites“ ab. Mir schmeckt der Fisch so gut, dass ich ihr einen Wein spendiere und im Lokal einen Toast auf sie ausbringe. Die gute Frau ist sichtlich gerührt.
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18. Tag: Gemahlin und Wetter in Deutschland erlauben mir einen weiteren sonnigen und warmen Tag auf diesem herrlichen Platz. Ich nutze ihn zum Faulenzen und Souvenir kaufen. Am frühen Abend gibt der Platzwirt einen Empfang. Er hat einen internationalen Preis bekommen. Ich finde, er hat ihn verdient.
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19. Tag: Ich packe und fahre um halb elf los. Der Tag ist heiß und sonnig. Zum Abschied gelingt mir ein Foto von Seltenheitswert: der wolkenlose Gipfel des Canigou. Da Lenin und ich keine Autobahn mögen, wählen wir eine Route quer durch das Zentralmassiv zum wohlbekannten Platz von Crest. Unterwegs verblüfft Lenin eine Gruppe von Boxerfahrern, weil er scheinbar mühelos mit ihnen mithalten kann. Ich bekomme anerkennende Kommentare zu hören und muss an der Ampel ganz nach vorne fahren, damit alle seinen schönen Körper bewundern können.
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Weniger angenehm in Erinnerung bleibt mir eine andere Begegnung. Irgendwo im Zentralmassiv kommt mir auf enger und kurviger Strecke ein rasender Motorradfahrer in extremer Schräglage entgegen. Da er trotz Gegenverkehr mehrere PKWs überholt, fehlt mir ohnehin bereits die Hälfte der eigenen Fahrbahn. Den Rest versperrt der Depp, indem er mich mit weit ausgeholter Hand begrüßt. Leute gibt’s…Gegen 20 Uhr laufen Lenin und ich in Crest ein. Ich nehme eine Hütte und stürze mich wie ein hungriger Wolf auf die Spaghetti des Platzrestaurants. Beim abendlichen Weinabsacker komme ich mit einer Motorradfahrergruppe aus Balingen ins Gespräch. Und siehe da: Sie kennen Hans, haben aber keine Ahnung, dass er MZ fährt.
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https://www.lecampingmoto.net/home?lang=de

20. Tag: Nach dem Schmieren und Spannen der Kette komme ich gegen 10.30 Uhr in Crest los. Ich wähle die Autobahn bis Lyon, um dann auf der Nationalstraße bis Besancon weiterzufahren. Ich stehe an einer Ampel in Lons le Saunier, als ein altes Guzzi-Gespann von hinten herantuckert. Der Fahrer und seine Sozia sind völlig aus dem Häuschen, als sie Lenins ansichtig werden. Sie rufen und winken wie verrückt, doch kann ich leider kein Wort verstehen. Auf der Autobahn nach Mulhouse hat Lenin dann schon seinen nächsten großen Auftritt. Ich gebe ihm derart die Sporen, dass mir der Fahrer einer alten R 100 an der Mautstation zu verstehen gibt: „Die läuft aber gut!“

Am frühen Abend habe ich Freiburg erreicht und nehme nun - quer über den Schwarzwald – Kurs auf Balingen. Hans und Margit nehmen mich freundlich auf und gewähren mir Kost und Quartier für die Nacht. Den Abend verbringen wir mit einem Arbeitskollegen von Hans und dessen Frau. Es sind sehr anregende Gespräche, die uns bis weit nach Mitternacht auf den Beinen halten. Ich hoffe noch auf viele gemeinsame Reisen mit Hans. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen kann: Es soll unsere vorletzte gemeinsame Unternehmung bleiben. Nur einmal werden wir uns noch vereint auf den Weg machen können. Danach stirbt mein alter Freund vollkommen unerwartet. Sein Sohn Hannes fährt jetzt seine Maschine.
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21. Tag: Unter dräuenden Gewitterwolken fahren Lenin und ich am Nachmittag in Richtung Coburg. Auf der Autobahn hole ich nochmals alles aus ihm heraus, was geht. Die gesamte lange Steigung der A 81 aus dem Jagsttal heraus nimmt der voll beladene Zweitakter mit etwa 130 kmh (Fahrradtacho!). Der Motor jubelt dabei im fünften Gang mit etwa 5.500 Umdrehungen. Nur eins darf uns jetzt nicht unterkommen: Ein Langsamfahrer, der die Drehzahl auf unter 4.500 absacken lässt. Dann wären bis zum Ende der Steigung womöglich nur noch 97 kmh angesagt. Zum Glück bleibt die Bahn ganz frei. In Würzburg zahle ich willig die Verbrauchs-Zeche für meine zügellose Gashand: 7,7 Liter auf 100 km sind der Spitzenwert in diesem Urlaub.

Um 16 Uhr kann ich Sigrid nach drei Wochen Abwesenheit endlich wieder in die Arme schließen. Wir sind beide sehr erleichtert, dass die 6.200 km lange Reise unfallfrei und ohne Pannen verlief. Ein bisschen stolz bin ich darauf auch. Schließlich habe ich das Motorrad vor drei Jahren bis zur letzten Schraube zerlegt und anschließend restauriert. Das gilt übrigens auch für den Motor. Lenin scheint die Spritmassen wirklich zu brauchen. Eine Inspektion nach der Reise ergab: Seine Zündkerze war nahezu frei von Rückständen, und dort, wo sich kleinere Mengen befanden, hatten sie eine helle, fast gelbe Farbe. Dann soll er halt saufen, der Bock. Ich lebe ja auch nicht abstinent!
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ἀλλ' εἰ χεῖρας ἔχον βόες <ἵπποι τ'> ἠὲ λέοντες
ἢ γράψαι χείρεσσι καὶ ἔργα τελεῖν ἅπερ ἄνδρες,
ἵπποι μέν θ' ἵπποισι, βόες δέ τε βουσὶν ὁμοίας
καί <κε> θεῶν ἰδέας ἔγραφον καὶ σώματ' ἐποίουν
τοιαῦθ', οἷόν περ καὐτοὶ δέμας εἶχον <ἕκαστοι>.
endurolo
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Registriert: So Feb 18, 2018 10:12 am

Re: Mit Lenin nach Kastilien

Beitrag von endurolo »

Tolle Tour, große Leistung, schöner Bericht. Hut ab.

Grüße, Lothar
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250oz
Beiträge: 452
Registriert: Do Apr 13, 2017 10:38 am
Wohnort: Baden Württemberg

Re: Mit Lenin nach Kastilien

Beitrag von 250oz »

Schöner Reisebericht, vielen Dank für deine Mühe.
Irgendwie kommt mir dein Zelt bekannt vor...

Grüße
Chris
Hauptsache 2 Räder und eine Kette :D
oder ein Riemen
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